Rezeption von Michael Gaismair und dem Entwurf seiner Landesordnung

Die Urfassung der Schrift, vermutlich zwischen Jänner und März 1526 entstanden, gilt heute als verloren und entstand in Klosters. Es existieren heute noch zwei Abschriften, eine im Staatsarchiv von Bozen, die andere im Haus-, Hof- und Staatsarchiv von Wien, sowie zwei weitere Kopien aus dem 19. Jahrhundert, die im Museum Ferdinandeum in Innsbruck und dem Tiroler Landesarchiv aufbewahrt werden. „Offenbar kam Gaismair nicht mehr dazu, eine abschließende Fassung herzustellen. Er wurde in Klosters im Prättigau Mitte März 1526 mit einer neuen Situation konfrontiert, die ihn zwang, die Feder beiseite zu legen und sich um die praktische Vorbereitung des Kampfes gegen die Habsburger zu bemühen. Macek [kommunistischer Historiker und einer der Pioniere der Gaismairforschung; Anm.] errechnet, dass sich Gaismair am 25. März 1526 von Klosters nach Zürich begab."[69]

Der Entwurf der Tiroler Landesverfassung beginnt mit einem Aufruf zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. „Die Ehre Gottes und der Gemeinnutz sind die obersten Gebote, die Gaismair dem >>geeinten, treuen Volk<< auferlegt. Das heilige Wort Gottes bildet den festen Rahmen seiner Landesordnung. In einer Zeit, in der die Heilsbotschaft meist schlecht verwaltet wird, versteht sich der tief religiöse Bauernführer als Mann Gottes."[70] Diese religiöse Verwurzelung Gaismairs wird von anderen Historikern hingegen zugunsten seines wirtschaftlichen bzw. politischen Pragmatismus meist in Frage gestellt, sollten doch Grund und Boden, Handwerksproduktion, Bergbau, sowie der Handel dem Land gehören. Welche Grundidee hinter dem Konzept der Tiroler Landesordnung auch immer stand, darüber wurde von diversen historischen Gelehrten immer wieder neu gestritten. Für die einen konzipierte Gaismair „einen egalitären, christlich-demokratischen Knappen- und Bauernstaat"[71], andere Historiker meinten in Gaismair einen Politiker zu sehen, „ [...] der auf der Grundlage der Bibel das Land reformieren und eine demokratische und christliche Bauernrepublik errichten wollte [...]"[72].

Der Plan einer politischen Neuordnung Tirols und Salzburgs am Beispiel Graubündens und Venedigs hatte aber auch viele pragmatische Inhalte. „Demnach sollten in einem demokratischen Tirol mit wieder erstarkten Gemeinden und Brixen als Hauptstadt die Anliegen der Bergpredigt verwirklicht werden. Das Programm sah die Verstaatlichung von Handwerk, Handel und Bergbau vor. Bergwerkseinnahmen sollten für soziale Zwecke verwendet werden, Weinberge und Ackerboden dem Bewirtschafter gehören. Neben einer Zollreform, plante er eine soziale Preispolitik, eine Gewinnumverteilung, die Errichtung sozialer Wohnbauten und die Bestellung eines Sozialreferenten in der Regierung. Bilder sollten aus der Kirche entfernt werden, Klöster in Spitäler umgewidmet, Gold- und Silbergeräte der Kirche für Münzherstellungen verwendet und die Burgen geschleift werden."[73] Außerdem war es Gaismair noch wichtig, dass der Adels- und Kirchenbesitz an die jeweiligen Gemeinde zurückfallen würde. In Brixen plante er eine „[...] Hochschule für das Studium der Hl. Schrift"[74]. Die Armen sollten Versorgung, unentgeltliche Pflege im Krankheitsfall erhalten, koordiniert werden sollten solche Maßnahmen durch einen Beamten des Landes für soziale Angelegenheiten. Finanziert werden sollten alle sozialen Projekte, wie etwa die Errichtung und Führung zusätzlicher Spitäler aus dem beschlagnahmten Kirchenbesitz.

Postuliert wurde in dieser Landesordnung die Gültigkeit einzelner Grundrechte für alle, um der Grundgleichheit aller Christen des Evangeliums zu entsprechen. „Um die Regierung des Volkes zu verwirklichen, muss die Regierungsgewalt wie eine Pyramide von unten nach oben wachsen. Gaismair trat daher als einer der ersten für eine weitgehende Gemeindeautonomie ein. Bei den Gemeinden (Gerichten) in denen alle dort Ansässigen alljährlich ein freier Wahl ihre Richter und Schöffen bestimmen, liegt ein Schwerpunkt seiner Republik. Tirol wird in Viertel eingeteilt, in denen die einzelnen Gerichte durch gewählte Abgesandte vertreten sind. Die Landesviertel bestimmen dann die Regierung."[75] Diese Vierteleinteilung war keine Erfindung Gaismairs, sondern bereits seit der Landesordnung von 1471 Realität. „Gaismair durchbrach in der regionalen politischen Ordnung nicht die traditionellen, als Bestandteil der ständischen Verfassung wirkenden politischen Machtverhältnisse. Er höhlte aber die Ständeverfassung insgesamt dadurch aus, dass den herrschenden Ständen alle Privilegien genommen wurden. Nun bestimmte tatsächlich ein größerer Teil der arbeitenden Bevölkerung in den Gemeinden und Ortschaften die Zusammensetzung der neuen Regierung und bildete eine Landschaft."[76] Wichtig ist es abrundend zu erwähnen, dass die Landesordnung kein demokratisches Papier im Sinne der französischen Revolution von 1789 ist, in dem Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit proklamiert, oder von einem Staatsbürgertum geredet wird. Vielmehr handelt es sich bei Gaismair um ein ständisch, klerikales Denken, das sich in der Wiederherstellung alter Rechte und Abschaffung unnötiger Privilegien erschöpft, ausgehend von pragmatischem Denken und konkreten Beschwerden der damaligen Bevölkerung.

Gewürdigt wird von vielen Fachleuten einerseits, dass Gaismair als einziger Bauernführer der damaligen Zeit „[...] einen geschlossenen Entwurf mit ausgearbeiteten Vorstellungen einer umfassenden neuen Ordnung vorgelegt hat [...]"[77] und andererseits, dass er die außenpolitische Dimension seines Kampfes mit einkalkulierte, in dem er versuchte Bündnisse mit Schweizern und Venedig zu schließen, sowie in seinem Verfassungsentwurf noch heute aktuelle Probleme ansprach. „Diese geplante Bauernrepublik war eine Utopie, aber einzelne Forderungen, wie die nach Verstaatlichung er Bergwerke, staatlichem Handelsmonopol und einer autarken Landwirtschaft muten merkwürdigerweise modern an."[78] Gaismair war aber kein Theologe, weshalb der reformatorische Einfluss auf sein Werk zwar gesehen werden muss, aber wohl kaum überstrapaziert werden darf, stellt man etwa einen Vergleich mit Thomas Müntzer an. „Von der unterschiedlichen Herkunft und Bildung sowie den anders gearteten Verhältnissen in Thüringen und Tirol abgesehen, fehlte dem mehr nach praktischen Erfordernissen operierenden Gaismair die theologisch begründete Weltsicht eines Müntzers und dessen theoretisch durchdachtes Widerstandsrecht."[79] Bei genauerem Studium der spärlich vorhandenen Quellen meinen einige Historiker, dass aus den Bergwerksartikeln der Landesordnung Gaismairs kein Aufruf zur Enteignung und darauf folgenden völligen Verstaatlichung des Montanwesens enthalten sei. Nur dem Adel sollte der Bergwerk- und Hüttenbesitz entzogen, der Landesfürst wieder für Vertrieb und Schmelze des Erzes verantwortlich zeichnen, um ausländische Handelsgesellschaften wie die Fugger aus dem Geschäft ausschließen zu können. Die Mittel- und Kleingewerken, zu denen Gaismair selbst gehörte, sollten weiterhin Berganteile besitzen können - von einer frühkommunistischen Forderung war „der Tiroler Bauernführer" also weit entfernt - seine Kritik war typisch für den gewerblichen Mittelstand. Michael Gaismair unterschied sich in seinem Streben nach Gewinn in keinster Weise von anderen frühkapitalistischen Unternehmern seiner Zeit. „Einigkeit herrscht in der Historiographie darüber, dass Gaismairs Vorstellung, den neuen Staat auf der Basis einer agrarischen Wirtschaftsordnung errichten zu wollen, eher als rückschrittlich zu bezeichnen ist."[80]

Kommunistische Historiker betrieben einerseits exakte historische Forschungsarbeit, sahen Gaismair jedoch durch ihre klassenkämpferische Brille und entdeckten somit einen frühbürgerlichen Revolutionär, der die klassenlose Gesellschaft vorbereiten wollte. „Gaismairs Landesordnung nimmt in der Geschichte der sozialen Utopien und der kommunistischen Programme vor Marx und Engels einen bedeutenden Platz ein."[81] Dies geschieht dadurch, dass „[...] die marxistische Auffassung von Reformation und Bauernkrieg als eine frühe Form der bürgerlichen Revolution darauf beruht, den Bauernkrieg als Teilerscheinung eines umfassenden revolutionären Preozesses am Beginn der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus zu verstehen."[82] Es war erstmals Friedrich Engels, der von diesem Stadium der revolutionären Entwicklung zu sprechen begann, den Begriff „frühbürgerlichen Revolution" aber nicht explizit verwendete. „Doch nimmt heute die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft an, dass Reformation und Bauernkrieg weder am Ende des Mittelalters, noch in einer Zwischenperiode, sondern am Anfang einer Reihe bürgerlicher Revolutionen in einer neuen Epoche stehen, die durch den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus gekennzeichnet ist und von 1500 bis 1789 dauert."[83]

Faktum hingegen ist, dass „[...] wegen seines Kampfes gegen herrschende Monarchie und Kirche Gaismair von der Geschichtsschreibung seiner Zeit weitgehend ignoriert wurde. Jahrhunderte später instrumentalisierten sowohl Nationalsozialisten als auch Kommunisten seine Geschichte für ihre Zwecke, erstere aufgrund Gaismairs Kampf gegen den Juden Graf Salamanca, Berater von Ferdinand I., letztere aufgrund seiner Forderung, die Gemeinschaft vor individuelle Interessen zu stellen."[84] Die Nationalsozialisten sahen den Bauernhauptmann gerne als „[...] edlen Kämpfer für Scholle, Volk und Reich."[85] Er wurde sogar für Werbezwecke zugunsten der Option in Südtirol des 20. Jahrhunderts missbraucht. Vor allem in Tirol wurde Gaismair als Landesverräter und Ketzer gesehen. „Die katholisch ausgerichteten Tiroler Historiker haben sich an dem gefürchteten Feind der katholischen Habsburger gerieben und neben dem vermeintlichen Landesverrat vor allem auch sein >>Ketzertum<< hervorgehoben."[86] Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts sollte ein Umdenken geschehen und erstmals begannen einige Künstler sich mit der Person Gaismairs ohne ideologische Vorverurteilung zu nähern. „1899 widmete sich der heimatverbundene Autor Franz Kranewitter der Tiroler Vergangenheit: das Drama über Michael Gaismair unter dem Titel >>Michel Gaissmayr<< entstand. Im Sommer 2001 wurde anlässlich der Tiroler Volksschauspiele in Telfs ein vom österreichischen Autor Felix Mitterer geschriebenes Stück über den Aufstieg und Fall Gaismairs uraufgeführt."[87] Dennoch ist der so oft zitierte „Tiroler Bauernführer" heute meist nur in einschlägigen Kreisen bekannt, weshalb seit den 1970er Jahren bis heute in der Tiroler Geschichtsschreibung versucht wird, Gaismair objektiver zu beleuchten. „Gaismair ist keine populäre Figur der Tiroler Geschichte. Alle Versuche, ihn zu einer Art mythischen Anti-Andreas-Hofer zu machen, wie dies beispielsweise zum Teil von radikalen Studentenkreisen angestrebt wird, sind kurzsichtig und zum Scheitern verurteilt. Gaismair eignet sich weder zum Nationalhelden, noch zum Tiroler Freiheitskämpfer aus anderer Sicht und schon gar nicht zum Vorkämpfer der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft. Er bleibt eine Figur im Gegenlicht, die zum Widerspruch reizt, eine große, doch unbequeme Gestalt der Tiroler Geschichte auf mitteleuropäischer Ebene."[88]

1976 wurde der Verein „Michael-Gaismair-Gesellschaft" gegründet, der es sich bis heute zum Ziel gemacht hat, eine andere Tiroler Geschichtsschreibung zu ermöglichen. „Ziel der Gesellschaft war und ist es, in Tirol eine kritische Gegenstimme zu sein, die andere Seite der Tiroler und Südtiroler Geschichte und Gesellschaft aufzuzeigen, die nur allzu oft verdrängt und verschwiegen wird. Verdrängung ist vor allem das Vokabel für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Tirol. Die einseitige Erinnerungskultur prägt aber nicht nur die jüngere Geschichte - die Person Michael Gaismairs ist ebenso beispielgebend dafür. So wurde nicht der in den Bauernkriegen gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit kämpfende Gaismair zum >>Landeshelden<< erhoben, sondern der für Katholizismus, Gegenaufklärung und Nationalismus stehende Andreas Hofer."[89] Beide historische Persönlichkeiten sind durch Mythen und ideologischen Ballast Verunstaltet worden, um den herrschenden Eliten Tirols eine Legitimität zu verleihen, die so oft aus eigener Kraft nicht gehabt hätten.

Autor: Dr. Rudolf Fallmann